Bronze glänzt mehr als Silber? Ein psychologischer Blick auf Olympia
von Dr. Sebastian Horn
Welche Ereignisse machen uns glücklich? Auf diese komplexe Frage gibt es keine eindeutige Antwort, denn oft hängt unser Glücksgefühl nicht nur von objektiven Ergebnissen ab, sondern von unseren Erwartungen und Vergleichen. Das Forscherteam um Victoria Medvec, Scott Madey und Thomas Gilovich (1995) hat dieses Phänomen anhand der Olympischen Spiele 1992 untersucht und dabei eine überraschende Beobachtung gemacht: Bronze-Gewinner:innen wirken oft glücklicher als Silber-Gewinner:innen!
Diese paradoxe Beobachtung hängt eng mit kontrafaktischem Denken zusammen – also mit Gedanken an Szenarien oder Ereignisse, die nicht eingetreten sind, aber hätten eintreten können («was wäre gewesen, wenn …»). Nachdenken über alternative mögliche Verläufe scheint entscheidend zu beeinflussen, ob wir uns mit einem Ergebnis eher glücklich oder unglücklich fühlen.
Dabei spielt es eine grosse Rolle, wie leicht uns solche «mentalen Simulationen» fallen: Silbermedaillengewinner:innen stellen sich vielleicht eher vor, wie nah sie am Sieg waren («Ich hätte fast Gold gewonnen!»). Bronzemedaillengewinner:innen dagegen denken eher daran, dass sie auch leer hätten ausgehen können («Immerhin habe ich eine Medaille geschafft!»).
Um diese Hypothese zu prüfen, führte das Forscherteam mehrere Studien durch. In einer dieser Studien analysierten sie Videoaufnahmen von den Medaillengewinner:innen der Olympischen Spiele 1992 in Barcelona, die ein Fernsehsender ausgestrahlt hatte. Zwanzig neutrale Beobachter – Studierende, die keine grossen Sportfans waren – schauten sich diese Videos ohne Ton an. Einige der Aufnahmen zeigten die unmittelbaren Reaktionen der Sportler:innen direkt nach dem Wettkampf (z. B. als eine Schwimmer:in die Anzeigetafel sah und ihre Platzierung erfuhr), andere Aufnahmen zeigten die Sportler:innen bei der Medaillenverleihung auf dem Podest. Nach jeder Szene bewerteten die Studierenden auf einer 10-Punkte-Skala, wie glücklich die Sportler:innen wirkten. Die Bewertungen der Studierenden waren sehr konsistent, d.h. sie schätzten die unterschiedlichen Gefühlsregungen der Sportler:innen relativ ähnlich ein.
Die Ergebnisse waren eindeutig: Bronzegewinner:innen wirkten in beiden Situationen deutlich glücklicher als Silbergewinner:innen: Bei den direkten Reaktionen lag der Mittelwert für Bronzegewinner:innen bei 7,1 (von 10), während Silbergewinner:innen nur 4,8 erreichten. Auf dem Podest betrug der Durchschnitt für Bronzegewinner:innen 5,7, für Silbergewinner:innen nur 4,3.
Diese Forschung ist nicht nur für den Sport interessant. Sie illustriert ein grundlegendes psychologisches Prinzip: Unser Glück hängt oft mehr davon ab, wie wir Ergebnisse mit möglichen Alternativen vergleichen, als von der objektiven Leistung selbst. Silber zu gewinnen kann also schmerzen, wenn man das verpasste Gold vor Augen hat, während Bronze ein Erfolg sein kann, wenn man bedenkt, dass man auch leer hätte ausgehen können.
Die Studie von Medvec und Kollegen liefert damit ein anschauliches Beispiel dass nicht das absolute sondern das relative Ergebnis psychologisch besonders beduetsam ist. So wird verständlich, warum manchmal «weniger mehr sein kann».
Literatur
Medvec, V. H., Madey, S. F., & Gilovich, T. (1995). When less is more: Counterfactual thinking and satisfaction among Olympic medalists. Journal of Personality and Social Psychology, 69(4), 603–610. https://doi.org/10.1037/0022-3514.69.4.603
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